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Hervorragender Feinuhrmacher, genialer Erfinder und renommierter Fachautor: Alfred Helwig zählt zweifelsfrei zu den größten Persönlichkeiten der deutschen Horologie. 1886 im preußischen Sorau geboren, bereicherte er die Uhrenwelt mit der Entwicklung des fliegenden Tourbillons um eine der filigransten und begehrtesten Komplikationen. Begeben wir uns auf eine spannende Zeitreise ins frühe 20. Jahrhundert, um der Karriere eines Glashütter Pioniers auf die Spur zu kommen.
Vom Lehrling zum Meister – die frühen Jahre
“Drehganguhren” – was irgendwie professionell klingt, wäre sicherlich kein spannender Name für ein literarisches Meisterwerk. Doch 1926 erblickte ein Buch mit genau diesem Titel das Licht der Welt, unspektakulär verziert durch einen braunen Einband. Wer jedoch hineinsah, dem eröffnete sich ein nie dagewesenes Fachwissen über die verschiedenen Bauarten und die Regulierung des Tourbillons, der komplexesten Konstruktion der Uhrenwelt. Der Autor: Alfred Helwig, Feinuhrmacher aus Glashütte. Der Weg des Verfassers zu seinem überragenden Erfolg ist gut dokumentiert und gleicht zunächst dem Werdegang eines gewöhnlichen Handwerkers.
Er begann 1900, als Helwig seine kindliche Faszination für mechanische Dinge zur Berufung machte und beim Uhrmachermeister Gustav Dunkel in Sorau eine vierjährige Lehre absolvierte. Nachdem er sein Wissen von 1904 bis 1905 in der Deutschen Uhrmacherschule (DUS) vertiefte, folgte ab 1906 eine Anstellung in der Glashütter Präzisions-Uhren-Fabrik A.G., die später im weltberühmten Hersteller Glashütte Original aufgehen sollte. Trotz seiner anschließenden, erfolgreichen Tätigkeit bei den Hamburger Chronometerwerken (heute als Gerhard D. Wempe KG bekannt) zog es ihn zurück in die sächsische Idylle, wo Helwig 1911 seine eigene Werkstatt für Chronometrie eröffnete.
Der Durchbruch als Pionier
Von da an ging es im Leben des talentierten Konstrukteurs steil bergauf: 1913 ernannte ihn die Deutsche Uhrmacherschule zum Fachlehrer, der sich fortan auf die Gebiete Feinregulierung und Tourbillons spezialisierte. Nach fast sieben Jahren intensiver Forschung gelang ihm 1920 in Zusammenarbeit mit seinem Meisterschüler Conrad Richter die wohl größte Leistung seines Lebens – ein neues, diesmal fliegendes Tourbillon war geboren. Es sollte nicht lange dauern, bis die Zeitgenossen Helwigs seinen Durchbruch, aber auch den herausragenden Wert des Pioniers für die Uhrmacherschule erkannten.
1923 zum Oberlehrer ernannt, leistete er insbesondere in der Schülerbetreuung exzellente Arbeit: Legendär wurden die Helwig-Schülertourbillons, mit denen er seine Entdeckungen anschaulich an die nächste Generation angehender Uhrmacher weitergab. Trotz seiner bisherigen Errungenschaften arbeitete der 1933 zum Gewerbestudienrat ernannte Vorreiter an der stetigen Verbesserung seiner Meisterstücke und wendete sich ab 1937 vollständig der Entwicklungsarbeit zu.
In einem Werk vereint: Erfahrung und Leidenschaft
Wer ein fliegendes Tourbillon schon einmal bei seinen filigranen Bewegungen beobachten durfte, mag sich die Komplexität dieser scheinbar lebendigen Mechanik kaum vorstellen. Selbst das Genie Alfred Helwig investierte unzählige Stunden, um die Theorie und Praxis dieser einen Komplikation vollständig zu durchdringen.
Seine Erfahrungen auf diesem Fachgebiet fasst das 1950 veröffentlichte, in Zusammenarbeit mit Karl Giebel (Direktor der DUS von 1920 bis 1949) entstandene Werk “Die Feinstellung der Uhren” auf über 600 Seiten meisterhaft zusammen. Aufgrund der angeordneten Geheimhaltung während des Zweiten Weltkriegs deutlich später publiziert als verfasst, liefert es unter anderem die wissenschaftlichen Grundlagen für Breguet-Kurven sowie anschauliche Erklärungen zur Funktionsweise des Tourbillons.
Die Magie des fliegenden Wirbelwinds
Doch was unterscheidet Helwigs Tourbillon von jener Original-Entwicklung, mit der Abraham Louis Breguet bereits 1795 die Uhrenwelt revolutionierte? Die Funktion jedenfalls ist identisch, denn sowohl Breguets als auch Helwigs Konstruktion gleichen durch die Bewegung des Ankerrads, des Ankers und der Unruh auf einem Drehgestell die Auswirkungen der Erdanziehungskraft auf die Genauigkeit des Uhrwerks aus.
Die wesentliche Differenz zwischen beiden Varianten liegt in der Befestigung dieses als “Tourbillonkäfig” bezeichneten Drehgestells: Während Breguet auf eine Lagerung an Ober- und Unterseite setzte, verzichtete Helwig auf die obere Lagerung und verlieh der Mechanik damit einen schwebenden Charakter. Endlich, mehr als 120 Jahre nach ihrer Erfindung, wurde die Komplikation ihrem französischen Namen gerecht, der so viel wie “Wirbelwind” bedeutet.
Ein Lebenswerk, das seinesgleichen sucht
Seine Arbeit an der berühmten Uhrmacherschule Glashüttes beendete Alfred Helwig im Jahr 1954 und lebte bis zu seinem Tod 1974 in jenem sächsischen Städtchen, das bis heute als Herz der deutschen Uhrmacherei gilt. Mehr als 40 Jahre nach der Ära des Meisters bleibt eine unvergleichliche Prägung der Uhrenwelt: Zahlreiche Luxusmarken wie Girard-Perregaux und Tag Heuer verbauen ein fliegendes Tourbillon in ihren prestigeträchtigsten Modellen – selbst in die Uhren Breguets, dem Erfinder des Tourbillons, findet Helwigs Weiterentwicklung inzwischen Platz.
Die sicherlich stärkste Verbindung zur Person Helwigs aber verspürt man in seiner Heimat: Obwohl die Deutsche Uhrmacherschule seit 1992 nicht mehr existiert und ihre Räumlichkeiten heutzutage für das beliebte Deutsche Uhrenmuseum Glashütte genutzt werden, ist sein Name dort präsenter denn je. So hat Glashütte Original nicht nur seine hauseigene Ausbildungsstätte nach ihm benannt, sondern auch eine limitierte Sonderauflage des High-End-Modells Senator Tourbillon lanciert.
Die “Edition Alfred Helwig” vereint das enorme Fachwissen des Konstrukteurs in einer verblüffenden Simplizität und zeigt damit, welchem Sinn er seine beeindruckende Lebensgeschichte widmete: Der Erschaffung von Präzision und Schönheit, die am Handgelenk ihres Trägers persönliche Erinnerungen schafft. Und genau das ist es doch, was wir an den edlen Zeitanzeigern so sehr lieben.