« Wenn Komplikationen fliegen lernen »
Anspruchsvollste Mechanik trifft erhabene Ästhetik: Seit über 200 Jahren gilt das Tourbillon als die Spitze aller Komplikationen und fasziniert durch seine filigranen Drehbewegungen. Eine besonders spektakuläre Variante des “Wirbelwinds” stellt ein fliegendes Tourbillon dar, 1920 vom Glashütter Uhrmachermeister Alfred Helwig entwickelt. Warum gerade diese Bauweise so beliebt ist, was sie auszeichnet und vom originalen Modell unterscheidet, erfahren Sie beim Weiterlesen.
Der Gravitation zum Trotz
Paris, 1795: Abraham Louis Breguet steht vor einem fundamentalen Problem. Denn obwohl der berühmte Uhrmacher seine Zeitanzeiger mehrfach bis zur Perfektion reguliert, zeigen sich spürbare, scheinbar unvermeidliche Gangabweichungen. Er versteht, dass diese Ungenauigkeit aus der Wirkung der Erdanziehungskraft resultiert:
Da der Schwerpunkt von Unruh und Spirale nicht im Zentrum der Unruhwelle liegt, erfahren die einzelnen Komponenten des Werkes eine unterschiedlich starke Belastung durch die Gravitation.
Breguets geniale Lösung bestand in der Montierung von Unruh, Unruhspirale, Anker und Ankerrad auf einem Drehgestell (auch als “Tourbillonkäfig” bezeichnet), das einmal pro Minute um die eigene Achse rotiert. Dadurch wechseln die Teile regelmäßig ihre relative Position zur Erde, was einen Ausgleichu der beschleunigenden und bremsenden Kräfte bewirkt. Damit war das Breguet-Tourbillon geboren.
Im Jahr 1801 patentiert, kann es bis heute nur von spezialisierten Fachkräften montiert werden, was angesichts der zarten Konstruktion kaum verwundert: Allein der Käfig besteht aus rund 80 Komponenten, die insgesamt weniger als ein halbes Gramm wiegen. Um aus dieser Symphonie filigraner Einzelteile eine hohe Ganggenauigkeit zu gewinnen, braucht es Talent und Erfahrung gleichermaßen. Nicht selten legten frühe Modelle mit der Komplikation eine schlechtere Präzision an den Tag als ohne, weil sich die korrekte Einstellung als Mammutaufgabe erwies.
Auf dem Weg zur Perfektion: Ein fliegendes Tourbillon
Diese Komplexität schreckte die meisten Uhrmacher des 19. Jahrhunderts vor dem Bau des Wirbelwinds ab – wer es trotzdem wagte, musste entweder übermütig oder ein herausragender Meister sein. Ein Meister wie Alfred Helwig. 1886 im preußischen Sorau geboren, absolvierte er bereits in jungen Jahren die Ausbildung zum Uhrmacher und erteilte im Jahr 1913 seine ersten Unterrichtsstunden als Lehrer der Deutschen Uhrmacherschule Glashütte.
1917 aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, beschäftigte sich Helwig intensiv mit Breguets Tourbillon. Ihn faszinierte aber nicht nur der Bau – der ehrgeizige Pionier nahm sich die Verbesserung der über 100 Jahre alten Mechanik zum Ziel. Nach drei Jahren präsentierte er ein bahnbrechendes Ergebnis: Während Breguets Konstruktion noch auf beiden Seiten gelagert war, also die Ober- und Unterseite des Tourbillonkäfigs mit Lagerbrücken versehen waren, verfügte Helwigs Ausführung nur an der Unterseite über zwei dieser Befestigungen.
Dadurch wurde die Oberseite frei, was dem Käfig eine fliegende Optik verlieh. Eine Lösung, die sich als ästhetischer Hingucker und technischer Vorreiter gleichermaßen erwies, da ein fliegendes Tourbillon durch weniger Druck belastet wird und somit noch feiner ausgeführt werden kann als ein Breguet-Tourbillon. Die daraus entstehende Leichtigkeit, niedrigere Trägheit und ein geringerer Materialbedarf machten Helwigs Bauart zur präzisesten ihrer Zeit – ein Überflieger im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Vergleich: Welche Bauart ist heute überlegen?
Sind die Tage des klassischen Tourbillons also nun gezählt? Keineswegs. Zwar mag es weniger kunstvoll aussehen als ein fliegendes Exemplar, kann im Gegenzug jedoch mit einer besseren Stoßsicherheit punkten. Darüber hinaus legten moderne Testverfahren wiederholt eine höhere Ganggenauigkeit des Breguet-Tourbillons nahe, insbesondere bei häufiger Änderung der Position.
Für Träger einer Armbanduhr scheint die herkömmliche Version also sinnvoller zu sein, wenn es um die reine Maximierung der Präzision geht. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Denn die schlechte Nachricht lautet, dass Tourbillons in modernen Zeiten praktisch keinen Einfluss mehr auf die Exaktheit eines Zeitanzeigers haben – die ständige Bewegung des Handgelenks, gepaart mit der ohnehin schon atemberaubenden Präzision aktueller Uhrwerke macht die einst so hilfreiche Komplikation nahezu nutzlos. Vielmehr geht es heute um die Begeisterung an mechanischer Komplexität, um die harmonische Optik, um Prestige und Seltenheit.
Als ultimative, noch schwieriger herzustellende Variante erfüllt ein fliegendes Tourbillon diese Funktionen exzellent – vielleicht sogar so exzellent, dass es der klassischen Bauweise ein Stück weit überlegen ist.
Faszination Fliegendes Tourbillon
Ob man nun das Breguet-Tourbillon oder den fliegenden Wirbelwind bevorzugt: Helwigs Entwicklung zählt ohne Frage zu den Highlights der modernen Horologie. Sie ist als Definition mechanischer Höchstleistungen zu verstehen, als ultimative Prüfung für begabte Uhrmacher, als das Lebenswerk eines faszinierenden Ausnahmetalents. Heute markiert ein fliegendes Tourbillon die Spitze der Produktportfolios vieler renommierter Hersteller, unter denen Glashütte Original wegen seiner engen Verbundenheit zu Helwig und der sächsischen Heimat besonders hervorsticht. So lancierte die Traditionsmarke erst kürzlich eine “Edition Alfred Helwig” ihres Senator Tourbillons, der seinen fliegenden Käfig auf 6 Uhr präsentiert. Doch auch andere Manufakturen demonstrieren ihre Kompetenz anhand der schwebend wirkenden Konstruktion.
Während Blancpain schon seit über 30 Jahren auf die anspruchsvolle Bauweise setzt und 2018 mit der Villeret Tourbillons Volant Heure Sautante Minute Rétrograde ein besonders eindrucksvolles Meisterstück vorstellte, setzt die Marke Breguet, ganz dem Gründer verpflichtet, das klassische Breguet-Tourbillon ein. Dennoch verdeutlichen zahlreiche Beispiele, dass Helwigs fliegendes Tourbillon die High-End-Klasse des Uhrenbaus heutzutage stärker beeinflusst als andere Komplikationen.
Der Geist des Erfinders lebt weiter, die Geschichte der filigranen Mechanik wird stolz fortgeschrieben. Wir dürfen gespannt sein, welche Modelle mit der drehenden Mechanik uns noch in Zukunft begeistern werden.