Drei Jahrzehnte bescherte sie der Uhrenmanufaktur Audemars Piguet den Titel der einzigen, großen Schweizer Luxusuhrenmarke in Familienbesitz. Jetzt räumt die Urenkelin des Firmengründers Jules-Louis Audemars ihren Vorstandsvorsitz des prestigeträchtigen Herstellers und wird durch den früheren Tiffany-Chef Alessandro Bogliolo ersetzt. Ein Blick in die große Karriere einer Journalistin, Kämpferin und souveränen Grande Dame der Schweizer Uhrenindustrie.
Rücktritt nach 30 Jahren an der Spitze
Große Konzerne dominieren die Schweizer Uhrenindustrie mit einer erschlagenden Übermacht. Manchmal hat man das Gefühl, die mächtigsten Player – Swatch Group, Richemont und LVMH – würden die gesamte Branche beherrschen. Das Gesicht der wohl prominentesten Ausnahme zählt seit 30 Jahren zu den einflussreichsten Frauen der Schweizer Industrie: Jasmine Audemars. Ihr Rückzug als Verwaltungsratspräsidentin, der am 11. November 2022 offiziell vollzogen wird, markiert eine Zeitenwende in der knapp 150-jährigen Geschichte der High-End-Manufaktur. Von der ersten Stunde im Jahr 1875 an befand sich das Unternehmen im Besitz der beiden Gründerfamilien Piguet und Audemars, die ihre Führungsrollen in selbstverständlicher Weise an die nächste Generation weitergaben.
1992 übernahm Jasmine Audemars den Verwaltungsrat von ihrem Vater Jacques-Louis Audemars, der dem unabhängigen Hersteller mit der mutigen Durchsetzung der Royal Oak den größten Erfolg der Firmengeschichte bescherte. Schnell entwickelte sich die “Grande Dame der Schweizer Uhrenindustrie”, wie die heute 80-jährige von der Presse tituliert und in eine Reihe mit Branchen-Ikonen wie Jean-Claude Biver oder Georges Kern gestellt wird, zu einer resoluten, vorausschauenden Chefin des großen Hauses. Der Unterschied zu ihren Vorgängern: Jasmine Audemars besitzt keine Nachfahren.
Von der Journalistin zur Uhren-Ikone
Im Gegenzug blickt die passionierte Uhrenpersönlichkeit, der die finanzielle Gesundheit und Unabhängigkeit ihrer Marke immer eine Herzensangelegenheit war, auf eine beeindruckende Karriere zurück. Nach dem Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Genf, das ihr eine bis heute anhaltende, enge Verbindung zur weltoffenen Rhone-Metropole beschert hat, arbeitet sie bei der Tageszeitung Journal de Genève und gewinnt tiefe Einblicke in die Welt der internationalen Handelsbeziehungen. Kenntnisse, die bei der späteren Konzernführung noch wertvoll sein sollten.
Fast 25 Jahre ihres Lebens widmet Jasmine Audemars dem Journalismus und steigt in den 1980er-Jahren an die Spitze ihrer Tageszeitung auf. An diesem Punkt wird sie zur ersten weiblichen Chefredakteurin der Schweiz und liebt ihren Job trotz des täglichen Drucks und der Tatsache, dass Chefredakteure nicht nur Freunde in der Welt besitzen, über alles. Entscheidungen fällen, spannende Menschen treffen, aus täglichen Fehlern lernen – während ihr Vater die Manufaktur auf eine zuvor unerreichte Erfolgspur bringt, verfolgt Jasmine ihre eigene Karriere.
Dass sie 1992 einen abrupten Szenenwechsel erlebt und den Präsidenten-Sitz von Audemars Piguet übernimmt, stört die Nachfolgerin nicht. Im Gegenteil: Die damals 50-jährige identifiziert sich (bis heute) zu 100 Prozent mit der Uhrmacher-Tradition ihrer Familie, übernimmt den Vorsitz mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie ihre Vorgänger und hat keine Angst vor der neuen Aufgabe. Der erste, große Paukenschlag folgt bereits ein Jahr nach ihrem Antritt: 1993 erscheint die bullige Royal Oak Offshore, die sich in den kommenden drei Jahrzehnten zu einem gewaltigen Erfolg neben der regulären Audemars Piguet Royal Oak entwickelt.
Geduld, Disziplin und Verantwortung
Dass die Geschäftsfrau ihren Herausforderungen mit geduldiger Gelassenheit entgegenblickt, soll sich auszahlen. Die gesunde finanzielle Aufstellung des Unternehmens ermöglicht es, mitten in der Finanzkrise 2008, eine neue Manufaktur zur dringenden Ausweitung der Kapazität zu errichten. Und auch in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre, als viele Uhrenmarken mit sinkenden Umsätzen zu kämpfen haben, schreibt der Hersteller unter Jasmine Audemars seine Erfolgsgeschichte pausenlos fort. Aus ihrer journalistischen Tätigkeit ist die Uhren-Präsidentin bestens mit internationaler Wirtschaft vertraut und weiß um die Vorzüge einer guten Diversifikation. Während andere Firmen massiv in China expandieren, stellt die strategische Führerin solide Umsätze auf allen Kontinenten in den Fokus.
Wie die Audemars Piguet Royal Oak Offshore und andere Zeitanzeiger der High-End-Marke, ist Jasmine ein spannender Charakter mit Ecken und Kanten. So widersprüchlich die Balance in der Uhrenindustrie zwischen der Bewahrung historischer Werte und der stetigen Weiterentwicklung erscheinen mag, so gegensätzlich sind die Eindrücke, die man im Gespräch mit der elegant gekleideten Businessfrau gewinnt. Einerseits leidenschaftlich, begeistert von ihrem Beruf und mit funkelnden Augen, sobald sie nach ihrer journalistischen Zeit gefragt wird, andererseits ruhig, beobachtend und vor allem diszipliniert. Jasmine Audemars betrachtet Disziplin als einen Luxus und Pünktlichkeit als eine Selbstverständlichkeit ihrer Branche.
Uhrenpersönlichkeit mit eigenen Überzeugungen
Eine Uhren-Repräsentantin, die unpünktlich erscheint? Für die selbstbewusste Lady nicht vorstellbar. Auch sonst ist die scheidende Herrin über Royal Oak und Co. eine Frau mit klaren Visionen, die komplexe Fragen kurz beantworten kann und Dinge hinterfragt, statt sie einfach hinzunehmen. Smartwatches zum Beispiel lehnt die Grande Dame des mechanischen Uhrenbaus nicht per se ab, sondern betrachtet sie als eine interessante Sparte neben traditionellen Uhren, die jedoch nicht an die emotionale Wirkung eines echten Automatikwerks herankommt. Besonderen Wert legt sie auf lokale Verantwortung und betont, dass vor allem in der Heimatstadt Le Brassus viele Arbeitsplätze und Familiengeschichten vom Wohlergehen der weltberühmten Firma abhängen. Und von der kompromisslosen Qualität der Spitzenmarke, welche für Jasmine Audemars nicht zur Diskussion steht.
Der Nachfolger: Kurzporträt von Alessandro Bogliolo
Ob ihr Nachfolger Audemars Piguet mit derselben Souveränität führen wird, bleibt abzuwarten. Die Vita von Alessandro Bogliolo jedenfalls klingt vielversprechend: Der 57-jährige, in New York lebende Italiener war von 2017 bis 2021 CEO von Tiffany & Co., nachdem er 16 Jahre lang den Vorstandsvorsitz der italienischen Modemarke Diesel innehatte. Dieser folgte auf verschiedene Managerpositionen bei Bulgari in den USA, Singapur und Italien. An Erfahrung in der Luxusbranche fehlt es Bogliolo jedenfalls nicht, um in die großen Fußstapfen seiner Vorgängerin zu treten.
Vollständig endet die bisherige Ära des letzten, im Besitz der Gründerfamilien befindlichen Uhrenherstellers jedoch nicht. Nach dem Abtritt von Jasmine wird mit dem 63-jährigen Olivier Audemars, der 1997 den Posten des Vizepräsidenten des Verwaltungsrates von seiner Tante Paulette Piguet übernahm und ein Urenkel des zweiten Firmengründers Edward Auguste Piguet ist, immer noch ein führendes Familienmitglied im Unternehmen sein.
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Bildquellen:
Beitragsbild:
By Rama – Own work, CC BY-SA 2.0 fr, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1563549
Porträt Jules Audemars:
By Alexaube – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=108993844
Porträt Edward Piguet:
By Alexaube – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=108993980