« Das etwas andere Tourbillon? »
Bezwinger der Schwerkraft, König der Komplikationen: Seit über 200 Jahren zählt das Tourbillon zu den aufwendigen und prestigeträchtigen Mechaniken der Uhrenwelt. Was viele nicht wissen: Das berühmte Drehgestell teilt sich seinen Thron mit einer verwandten, aber noch komplexeren Konstruktion namens Carrousel. Heutzutage von der Schweizer Luxusmarke Blancpain perfektioniert, verfügt sie über ein anderes Antriebssystem als das Tourbillon und blickt auf eine ebenso faszinierende Geschichte zurück.
Die Vision der absoluten Präzision
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben die meisten Taschenuhren mehr mit einer vagen Zeitschätzung als einer präzisen Zeitmessung zu tun. Reibungsprobleme durch fehlende Rubine, die ständig senkrechte Trageposition und wesentlich ungenauere Herstellungsverfahren als heute sorgen in der Regel für mehrere Minuten Gangabweichung pro Tag. Eine Katastrophe, der sich Abraham Louis Breguet im Jahr 1801 mit dem Patent seines Tourbillons (zu deutsch: Wirbelwind) entgegenstellt. Bis heute als talentiertester Uhrmacher aller Zeiten bekannt, montiert der Schweizer die Hemmung und das Regulierorgan erstmals in einem rotierenden Käfig und erzielt damit eine deutliche Reduktion der Ungenauigkeit.
Das Prinzip hinter diesem Erfolg wird an der Funktionsweise einer Hemmung verständlich: Zwischen der Zugfeder, dem kraftübertragenden Räderwerk und dem Regulierorgan (bestehend aus Unruh und Spirale) befindlich, ermöglicht sie das periodische Anhalten des Räderwerks und damit den gleichmäßigen Gang der Uhr. In Breguets Konstruktion dreht sich diese Hemmung einmal pro Minute um sich selbst, wodurch der Einfluss der Gravitation auf den regelmäßigen Gang reduziert wird. Demnach hängt die Präzision des Zeitanzeigers nicht mehr von seiner Trageposition ab und bewegt sich auf konstant hohem Niveau.
Nicht simpler, aber präziser: Das Carrousel
So genial die rotierende Lösung auch ist: Ihre Massentauglichkeit ist während des 19. Jahrhunderts – genau wie heute – unvorstellbar. Viel zu komplex, viel zu teuer und viel zu schwierig regulierbar ist die Vorrichtung. Ein Umstand, der den dänischen Uhrmacher Bahne Bonniksen um 1892 zur Entwicklung einer neuen Lösung anspornt.
Wirtschaftlicher, simpler und gleichzeitig leistungsstärker als das Tourbillon soll sie sein. Dabei wählt er einen ähnlichen Ansatz wie Breguet fast 100 Jahre zuvor, denn auch in Bonniksens Carrousel befinden sich Hemmung und Regulierorgan in einem Drehgestell. Der fundamentale Unterschied zum Tourbillon liegt im Antrieb der Komplikation: Während der Wirbelwind über ein einziges Treibrad hinter dem Käfig verfügt, das alle Komponenten des Käfigs inklusive der Hemmung antreibt, setzt das Carrousel auf zwei separate Antriebsstränge.
Ein Zahnrad sorgt dabei für die Drehbewegung des Gestells, ein zweites treibt die Hemmung unabhängig davon an. Weil sich die Unruh und ihre Brücke in diesem Falle unter einer rotierenden Platte befinden, etablierte sich die Bezeichnung Karussell, wobei die originale Schreibweise “Carrousel” ebenso häufig anzutreffen ist.
Insgesamt erzielt die Konstruktion durch ihre bessere Kraftverteilung eine höhere Genauigkeit als das Tourbillon, doch das Ziel ihres dänischen Pioniers konnte sie nie erreichen.
Im Gegenteil: Noch mehr Teile und eine noch schwierigere Ausbalancierung als bei Breguets Entwicklung ließen das Carrousel im Laufe des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten.
Blancpain im Fokus: Moderner Meister des Carrousels
Umso erfreulicher, dass die filigrane Komplikation innerhalb des letzten Jahrzehnts ein Comeback feiern durfte. Für die Rückkehr verantwortlich ist die Schweizer Luxusmarke Blancpain, die seit ihrer Gründung im Jahr 1735 auf komplexe Uhrwerke spezialisiert ist. Dabei feierte das Carrousel seine Wiedergeburt nicht etwa plötzlich, sondern auf dem Fundament gründlicher Vorarbeit: So lanciert die Manufaktur im Jahr 1989 zunächst ihre erste Tourbillonuhr, ausgestattet mit einer beeindruckenden Gangreserve von acht Tagen und dem bis heute typischen Sichtfenster im Zifferblatt.
2008 ist es dann schließlich so weit: Der Hersteller aus dem idyllischen Vallée de Joux präsentiert mit der Carrousel Volant Une Minute das weltweit erste Karussell fürs Handgelenk. Der Aufruhr in der Uhrenwelt ist damals gewaltig – wann sieht man schon eine neuartige Komplikation dieser Größenordnung? Doch das Kaliber 225 in der Volant Une Minute sollte erste der Anfang sein.
Schon wenig später stand das nächste große Ziel im Raum: Die Vereinigung von Carrousel und Tourbillon in einem einzigen Gehäuse. Ein ambitioniertes Vorhaben, das im Jahr 2013 zur Vollendung gelangte und die klangvolle Bezeichnung “Le Brassus Tourbillon Carrousel” trägt. Benannt nach dem Hauptsitz der Swatch-Tochter, präsentiert es beide Drehgestelle in fliegender Form bei zwölf und sechs Uhr. Eine spektakuläre, aber dennoch klassische Umsetzung der mechanischen Superlative.
Seinem enormen Herstellungsaufwand entsprechend, fiel der Preis des Meisterstücks ebenso gewaltig aus wie der Rest seiner technischen Daten: Rund 300.000 Euro mussten für die prestigeträchtige Herrenuhr auf den Tisch gelegt werden. Legitimer Nachfolger ist heute die Blancpain Spécialités Tourbillon Carrousel.
Das Erbe Bonniksens lebt
Heute, sieben Jahre nach der “Le Brassus Tourbillon Carrousel”, ist das komplexe Drehgestell Bonniksens zum festen Bestandteil der Produktpalette Blancpains geworden: Ab 100.000 Euro sind die “einfachen” Karusselle wie etwa die Villeret Carrousel Volant Une Minute oder die Carrousel Phase de Lune erhältlich. Wer es aufwendiger mag, kann die rotierende Mechanik mit anderen High-End-Komplikationen wie etwa einer Minutenrepetition kombinieren, was im Falle der Métiers d’Art Carrousel Répétition Minutes mit 445.300 Euro zu Buche schlägt.
Die wohl auffälligste Realisierung findet sich in der Spécialités Tourbillon Carrousel, die beide Käfige in einem futuristischen Gehäuse vereint. Die Faszination des Karussells geht weit über den reinen Besitz hinaus: Als ultimative Verkörperung mechanischer Höchstleistungen begeistert es alle Enthusiasten und verdeutlicht uns die Schönheit der Horologie im Jahr 2020 einmal mehr. Und was wäre die Uhrenwelt schon ohne große Träume? Wir jedenfalls wünschen dem prestigeträchtigen Drehgestell eine glorreiche Zukunft – möge es den Tourbillons unserer Zeit noch lange zur Seite stehen.