« Was ist ein Manufakturwerk? »
Die Faszination dieser Mechanik ist für viele Uhrenliebhaber der wichtigste Teil ihres Hobbys. Doch Kaliber ist nicht gleich Kaliber: So genießen Manufakturwerke meist ein höheres Ansehen als Großserienwerke und zählen im höheren Preisbereich zum guten Ton eines jeden Herstellers. Aber was genau ist ein Manufakturkaliber und wo verläuft die Grenze zum Konfektionswerk? Wir erklären die Thematik und warum selbstgebaute Antriebe seit einigen Jahren immer beliebter werden.
Alles aus einem Hause: Das Manufakturwerk
Unter einem Manufakturwerk versteht man ein mechanisches Kaliber, das aus der eigenen Produktion eines Uhrenherstellers stammt. Damit steht es im Gegensatz zu Großserienwerken, die von Zulieferern wie ETA oder Sellita gefertigt, an die Marken verkauft und anschließend in die Gehäuse des Herstellers verbaut (“eingeschalt”) werden. Im Englischen als “In-House Caliber” bezeichnet, gehen Manufakturwerke durch ihre aufwendige Entwicklung und Produktion mit erheblichen Mehrkosten für die Uhrenmarken einher, weshalb sie in der Luxusklasse deutlich häufiger vorzufinden sind als bei Einsteigermodellen.
So greifen High-End Manufakturen wie Breguet oder Blancpain ausschließlich auf selbst produzierte Antriebe zurück, während Mittelklasse-Uhren wie beispielsweise von Union Glashütte oder Longines auf modifizierte Großserienwerke zurückgreifen.
Modifikation ist das richtige Stichwort, denn manchmal verläuft die Grenze zwischen Konfektions- und Manufakturkaliber sehr fließend. So etwa bei Union Glashütte: Zwar wird die Basis der sächsischen Uhrwerke vom Schweizer Branchenprimus ETA geliefert, doch die Veredelung und Qualitätskontrolle erfolgt ebenso in Eigenregie wie die Produktion des Rotors. Klare Charakteristika eines Manufakturwerks, die eine sichtbar höhere Fertigungskompetenz als ein standardmäßiges Großserienkaliber erfordern.
Das Beispiel verdeutlicht eine komplexe Problematik, die regelmäßig für Diskussionen unter Experten sorgt: Ab wann darf von einem Manufakturwerk die Rede sein?
Warum sind selbstgebaute Werke so begehrt?
Noch komplexer wird die Frage, wenn man die Herkunft einzelner Komponenten mit einbezieht. Im radikalsten Falle müsste ein Manufakturkaliber nicht nur selbst zusammengebaut sein, sondern ausschließlich aus selbst produzierten Teilen bestehen. Ein Ideal, das in der Realität fast nie erreicht wird – so stammen etwa 90 Prozent der Schweizer Spiralfedern aus den Hallen der Spezialfirma Nivarox FAR und werden selbst in den teuersten Manufakturwerken eingesetzt. Eine gewisse Toleranz für Fremdeinwirkung müssen also selbst größte Enthusiasten des selbst gebauten Antriebs mitbringen.
Woher kommt eigentlich die hohe Anziehungskraft des Manufakturwerks?
Die meisten Liebhaber sind vom Gedanken der Vollständigkeit fasziniert: Nicht nur außen, sondern auch innen ganz den Charakter des Herstellers zu besitzen, ist ein besonderes Gefühl. Sicher, auch ein Großserienwerk kann den Charme und die Komplexität der klassischen Mechanik vermitteln. Aber nur beim Manufakturwerk treffen diese Werte auf eine Wahrnehmung von Einzigartigkeit und Persönlichkeit. Wie ein Ferrari und sein Motor, bilden Gehäuse und Antrieb eine unzertrennliche Einheit.
Hinzu kommt ein technologischer Aufwand, der seinesgleichen sucht: So investierte Omega in die Entwicklung seines Co-Axial-Chronographen-Kalibers 9300 umgerechnet über 90 Millionen Euro – selbst für einen Giganten des Uhrenmarktes eine ordentliche Hausnummer. Käufer bekommen dadurch den (korrekten) Eindruck, dass ihr Uhrwerk “für sie” und nicht etwa für die breite Masse konzipiert wurde.
Manufakturkaliber: Die Stars der Uhrenwelt
Diese Idee der Individualität wird bei Betrachtung einiger berühmter Manufakturwerke noch deutlicher. Nehmen wir zum Beispiel das Zenith El Primero: 1969 als weltweit erstes automatisches Chronographenwerk präsentiert, ist es für seine Hochfrequenz von 36.000 Halbschwingungen pro Stunde (5 Hz) bekannt und gilt noch 50 Jahre nach seiner Vorstellung als technologisches Meisterwerk.
Oder das Glashütte Original 61-03: Es schlägt zwar nur mit 4 Hz, bietet dem Betrachter im Gegenzug jedoch eine spektakuläre Verzierung mit der prominenten Schwanenhals-Regulierung aus der sächsischen Uhrmacherstadt. Manufakturwerke diversifizieren die Uhrenwelt, schenken ihr Abwechslungsreichtum und machen sie spannend. Es ist wie bei exklusiven Autos: Gerade die Vielfalt aus edlen Bentleys, rasanten Lamborghinis und vielen anderen Marken ist es, die für Aufregung und Leidenschaft sorgt.
Gehen wir weg von emotionalen Aspekten, stellt sich eine objektive Frage: Ist ein Manufakturwerk immer besser als ein Großserienwerk? Die klare Antwort lautet nein. Oftmals ist es sogar umgekehrt, wenn die altbewährte und zuverlässige Technik massenproduzierter Kaliber einer neuen und unerprobten Technologie von Eigenentwicklungen gegenübersteht.
Kommt es dann zu Fehlern beim teuren Manufakturwerk, wird der Uhrenkauf zu einem desaströsen Erlebnis. Hinzu kommt eine schwierigere Wartung: Während weitverbreitete Konfektionskaliber zum Alltagsgeschäft der meisten Uhrmacher gehören, erfordern Manufakturwerke eine spezielle Ausbildung.
Der Trend zum Manufakturwerk
Angesichts solcher Tatsachen stellt sich die Frage, warum die Entwicklung neuer Manufakturkaliber in der Uhrenbranche ständig zunimmt und in den letzten Jahren neue Höhepunkte erreichte. Wäre es nicht viel klüger, die verlässlichen Großserienwerke zu kaufen und markenspezifisch zu veredeln? Der Grund für den aktuellen Trend hat weniger mit Leidenschaft als mit Pragmatismus zu tun: Seit Beginn der 2000er-Jahre verfolgt ETA – der mit Abstand größte Werke-Zulieferer – die Absicht einer erheblichen Drosselung seiner Produktion. Nicht mehr einzelne Komponenten, sondern nur noch vollständige Kaliber werden seit einigen Jahren an die Marken ausgeliefert. Dieser Angebotsrückgang zwingt die Manufakturen förmlich zur Herstellung eigener Antriebe – eine Tatsache, die Uhrenfans wohl sehr positiv aufnehmen dürften.
Übrigens durchdringt der Wandel zur Selbstständigkeit nicht nur die Luxusklasse, sondern lässt sich auch im erschwinglichen Preisbereich erkennen. Neben Schweizer Erfolgsmodellen wie der Tudor Heritage Black Bay Steel mit Kaliber MT5612 ist NOMOS Glashütte ein hervorragendes Beispiel dafür: So ist heutzutage jeder Zeitanzeiger des deutschen Herstellers mit einem Manufakturwerk ausgestattet, die Fertigungstiefe liegt bei rekordverdächtigen 95 Prozent.
Auch in Japan ist die Kunst der mechanischen Eigenproduktion schon lange bekannt, wie Seiko unter Beweis stellt. Die Traditionsmarke fertigt alle Kaliber in Eigenregie und ist damit das ultimative Beispiel für günstige Manufakturwerke. Eine echte Empfehlung für jeden, der mit einem hauseigenen Antrieb in die Welt der horologischen Mechanik eintauchen möchte.