« Quantensprung im Bau mechanischer Uhren? »
Lohnt es die Zeit und Mühe, unseren Lesern an dieser Stelle eine Uhr vorzustellen, von der insgesamt nur zehn Exemplare existieren und die zudem bereits komplett ausverkauft ist? In den meisten Fällen könnte man wohl mit gutem Recht darauf verzichten. Hier allerdings geht es um nicht weniger als eine Revolution in der Konstruktion mechanischer Uhren, die in den kommenden Jahren noch in zahlreichen weiteren Uhrenmodellen zur Anwendung kommen dürfte. Als “Branchenrevolutionär” tritt dabei einmal mehr die Manufaktur Zenith in Erscheinung, die 1969 bereits mit dem ersten automatischen Chronographenwerk El Primero Uhrengeschichte geschrieben hatte.
Fundamentale Neuerung bricht mit jahrhundertelanger Konstruktionstradition
Wann die ersten mechanischen Uhren mit Räderwerk gebaut wurden, ist nicht genau überliefert. Fakt ist, dass eine solche Uhr schon vor mehr als 680 Jahren zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde. In den folgenden Jahrhunderten kam es immer wieder zu Weiterentwicklungen und technischen Veränderungen, die die Ganggenauigkeit der Uhren verbesserten und neue Verwendungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel das Mitführen von Uhren in der Westentasche oder auf Schiffen, boten. Doch in den fast dreieinhalb Jahrhunderten seit der Entwicklung von Uhren mit Unruh und Spiralfeder durch Christiaan Huygens im Jahr 1675 hat sich an den wesentlichen Bauteilen und Funktionsprinzipien nicht mehr viel geändert.
Einen umso größeren Paukenschlag bedeutete es daher für die gesamte Uhrenbranche, als Zenith am 14. September 2017 die Defy Lab präsentierte. Seither ist klar, dass das althergebrachte Assortiment mit Anker, Ankerrad, Unruh und Unruhspirale – für das jeweils mindestens dreißig verschiedene Teile notwendig sind – nicht mehr zwingend erforderlich ist. Die neue Uhr von Zenith kommt ganz ohne herkömmliche Hemmung mit Spiralfeder und runder Unruh aus. Stattdessen ist sie mit einem völlig neuen Gangregler ausgestattet, der von der Fachwelt schon jetzt als Revolution der mechanischen Uhrentechnik gefeiert wird.
Resultat jahrelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit
Zeniths jüngste Innovation, der Zenith Oszillator, ist das Ergebnis von fünf Jahren intensiver Arbeit eines interdisziplinären Teams von Wissenschaftlern und Technikern. Das kleine Wunderwerk ist lediglich einen halben Millimeter hoch und wird aus monokristallinem Silizium hergestellt. Dank einer Oxidschicht ist es stabil gegenüber Temperaturschwankungen und reagiert darauf nicht mit Ausdehnung beziehungsweise Zusammenziehen. Dies ist notwendig, um die hohe Ganggenauigkeit zu erzielen, die das damit bestückte, neue Kaliber ZO 342 auszeichnet.
Das in der Zenith Defy Lab zum ersten Mal verwendete Uhrwerk soll eine um den Faktor 10 höhere Ganggenauigkeit aufweisen.
Was das in der Praxis konkret bedeutet, zeigt sich besonders eindrucksvoll bei einem Vergleich mit den für zertifizierte Chronometer geforderten Werten. Um den begehrten Nachweis der offiziellen Schweizer Chronometerprüfstelle zu erbringen, darf die maximale Gangabweichung des betreffenden Uhrwerks, die in verschiedenen Lagen getestet wird, pro Lage nicht mehr als minus vier oder plus sechs Sekunden innerhalb von 24 Stunden betragen. Rolex gestattet seinen “Superlative Chronometern” sogar nur eine maximale Gangabweichung von plus oder minus zwei Sekunden am Tag. Die durchschnittliche tägliche Gangabweichung der Zenith Defy Lab soll dagegen lediglich bei 0,3 Sekunden liegen. Eine so hohe Präzision hat bislang noch keine andere mechanische Uhr erreicht.
Hohe Frequenz ermöglicht extreme Genauigkeit
Ihre schier unglaubliche Genauigkeit verdankt die Defy Lab einer Frequenz von 15 Hertz beziehungsweise 108.000 Halbschwingungen pro Stunde, was für eine mechanische Uhr ein enormer Wert ist. Dabei beträgt die Amplitude nur plus/minus sechs Grad, während es bei einer klassischen Unruh etwa 300 Grad sind. Schon Zeniths berühmter Chronograph El Primero war mit fünf Hertz oder 36.000 Halbschwingungen pro Stunde ein wahrer “Schnellschwinger”.
Bemerkenswert ist jedoch nicht nur die enorme Genauigkeit der Defy Lab, sondern mindestens ebenso die Tatsache, dass ihre Gangreserve bis zu 60 Stunden beträgt und nach Angaben des Herstellers die hohen Genauigkeitswerte über mehr als 95 Prozent dieser Zeit – rund 57 Stunden – beibehalten werden.
Eigenschaften von Silizium und Aeronith sorgen für Robustheit und Leichtigkeit
Dass der Oszillator aus Silizium hergestellt ist, erweist sich in mehrfacher Hinsicht als vorteilhaft. Neben der bereits erwähnten Unempfindlichkeit gegenüber Temperaturveränderungen wird das Material ebenso durch Magnetfelder oder Schwerelosigkeit nicht beeinträchtigt. Zudem ist keine Schmierung notwendig. Das wiederum vereinfacht die Wartung, da keine alterungsbedingten Rückstände von Fetten oder Ölen anfallen können, die die Funktion des Uhrwerkes beeinträchtigen könnten und daher entfernt werden müssten. Die moderne Siliziumtechnik ist darüber hinaus zur Fertigung von komplexen zweidimensionalen Formen in der Lage, die aus Stahlteilen so nicht hergestellt werden könnten. Es versteht sich von selbst, dass ein so spektakuläres Werk wie das der Defy Lab nicht in einem x-beliebigen Uhrengehäuse verbaut, sondern in einer angemessenen Hülle untergebracht werden sollte.
Für diese wählten die Schöpfer der Zenith Defy Lab das im eigenen Haus entwickelte Aeronith als Material. Das leichteste Aluminium-Composite der Welt ist 1,7-mal leichter als Aluminium und sogar 2,7-mal leichter als Titan. Zudem ist sein Gewicht um rund zehn Prozent geringer als das von Karbonfaser-Verbundwerkstoff. Seine Struktur lässt sich am besten als solider Metallschwamm beschreiben, dessen Poren durch ein Composite-Material versteift wurden.
Guy Sémon: der Kopf hinter der Zenith Defy Lab
Bei der Pressekonferenz anlässlich der Präsentation der neuen Defy Lab in Le Locle saß neben Jean-Claude Biver, dem Chef der LVMH-Uhrensparte und Zeniths CEO Julien Tornare auch Guy Sémon mit auf dem Podium. Er gilt als der Kopf hinter der Zenith Defy Lab. Der promovierte Physiker steht als CEO dem R&D Institut der LVMH Watch Division vor, das für die Uhrenmarken des Konzerns – darunter auch Tag Heuer und Hublot – die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten übernimmt. Mit dem revolutionären neuen Uhrwerk ist ihm ein spektakulärer Coup gelungen, der schon heute einen Platz in den Geschichtsbüchern der Uhrenbranche sicher hat.
Schon während seiner Tätigkeit bei Tag Heuer hatte Guy Sémon besonders schnell schwingende Chronographenwerke konstruiert, mit denen sich minimale Zeitspannen bis zur Zweitausendstelsekunde messen ließen.
Serienproduktion der Zenith Defy Lab geplant – nächste Exemplare dürften 2018 auf den Markt kommen
Die ersten zehn, in unterschiedlichen Farbtönen gehaltenen Exemplare der Defy Lab waren noch am Tag der Präsentation binnen kürzester Zeit ausverkauft. Ihr Preis hatte bei 29.900 Schweizer Franken gelegen, was rund 26.000 Euro entsprach. Sie waren sogar dreifach zertifiziert, unter anderem durch das Observatorium in Besançon. Ihr Gehäusedurchmesser bewegte sich mit 44 Millimetern in einer für sportliche Herrenchronographen üblichen Größenordnung. Wer nicht die Chance hatte, ein Exemplar aus der Startauflage zu erwerben, muss sich allerdings nur wenige Monate gedulden. Denn in der Branche geht man davon aus, dass die Serienfertigung der Defy Lab spätestens bis zur Baselworld 2018 angelaufen sein dürfte. Dann hätten die nächsten Käufer Gelegenheit, eine Uhr zu erstehen, deren Entwickler nicht nur zentrale Grundprinzipien der Konstruktion mechanischer Uhren revolutioniert haben, sondern zugleich im Hinblick auf Materialeigenschaften und Leistungsparameter in völlig neue Dimensionen vorgestoßen sind.
Knapp ein halbes Jahrhundert nach der Präsentation von El Primero gibt Zenith damit wieder einmal der Branche den Takt vor und lässt die Herzen Mechanik-begeisterter Uhrenliebhaber höher schlagen.